Arthur Wiechula: Verwachsung.
Arthur Wiechula: Verwachsung. In: Ders.: Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend. Verlag Naturbau-Gesellschaft Berlin-Friedenau, um 1920.

Baubotanik

Baubotanik bezeichnet eine Mischkonstruktion aus lebenden Pflanzen und herkömmlichen Bauteilen. Trägersysteme, Handläufe und andere technische Bauteile werden in ein System aus jungen Holzpflanzen eingefügt. Da die Pflanzen über die Jahre hinweg untereinander verwachsen und eingefügte, technische Bauteile von ihnen überwallt werden, "verwächst" die Misch-konstruktion sukzessive zu einer lokal formschlüssigen Tragstruktur: Baubotaniker fügen; Pflanzen (ver-)wachsen.

Prozessualität

Baubotanische Tragstrukturen sind wie Gärten oder Parks prozessual zu planen. Darin folgt die Baubotanik dem Wunsch des Gartenbauingeniers Arthur Wiechula, die Gartenkunst um eine Konstruktionsmethodik zu erweitern, um die sie die Bautechnik seit jeher beneidet hat. Seine Vision dreidimensional begehbarer Parks gilt für die Baubotanik ebenso, wie die Visionen eines Buckminster Fuller nach einer synergetischen und regenerativen Architektur. Erstes Ziel der Baubotanik ist jedoch, den pflanzlichen Prozesscharakter ihrer Bauten erfahrbar zu machen. So, dass Architekten wie Nutzern lernen können, mit ihrer generellen Abhängigkeit von Umweltfaktoren, die die Wachstumsbedingungen der Baubotanik ausmachen, gelungen umzugehen.

Ästhetik

Um die Prozessualität baubotanischer Tragstrukturen möglichst deutlich zum Ausdruck zu bringen, müssen im Entwurf die Prinzipien der Statik möglicht eng mit den ästhetischen Qualitäten des prozessualen Pflanzenwachstums verbunden werden. Beispielsweise wird die lokal zunehmende Stabilität der Tragstruktur durch das Dickenwachstum der Pflanzen dann besonders deutlich, wenn Überwallungen möglichst sichtbar und an erreichbarer Stelle angeordnet werden (siehe hier). Auch der sukzessive Rückbau temporärer Stützstrukturen zeigt über die Lebenszeit des Bauwerks deutlich, an welchen Stellen die Pflanzen bereits tragfähig sind, und an welchen Stellen noch nicht (siehe hier). Zudem müssen der jährliche Laubfall und Austrieb, sowie die langfristige Ausbildung der Kronen- und Stammstruktur in die räumliche Ausgestaltung des Entwurfs eingebunden sein (siehe hier).

Gärtnerische Praxis

Die Ästhetik baubotanischer Bauten hängt stark von zukünftigen Ereignissen, Zuständen und Entwicklungen ab, die das Pflanzenwachstum beeinflussen. Darauf reagiert die Baubotanik gezielt mit Methoden und Techniken aus dem Gartenbau. Zum einen können Konstruktionen so entworfen werden, dass sie temporäre Hilfsstrukturen beinhalten, die wie Spaliere in Gärten und Parks diejenigen Pflanzen stützen, die noch nicht stabil sind. Zum anderen setzt der Wunsch, Bauten aus lebenden Pflanzen zu konstruieren, ein gelingendes Wachstum der ganzen Struktur voraus. Dieses ist jedoch nicht selbstverständlich. Wie in jedem Garten, Park oder bei jeder Zimmerpflanze spielen langfristig wirksame Prozesse gärtnerischer Pflege, die den Wachstumsprozess gestaltend begleiten, die Hauptrolle.

Lebende Bauten

Die Qualität, die baubotanische Strukturen zu "lebenden Bauten" macht, liegt in der Ereignishaftigkeit, die Pflanzen für Architekten und Nutzer bereithalten. Pflanzen überraschen durch die Form ihres Wachstums. Dieses ist durch den Austrieb und Verfall, sowie die Form von Verwachsungen untereinander und die Überwallungen von technischen Bauteilen bestimmt. Außerdem hängt der Wachstumsverlauf zu großen Teilen von der kontingenten Entwicklung der Umweltbedingungen ab. Die Qualität des "Lebendigen" in der Baubotanik kann auf zweierlei Wegen erfahrbar gemacht werden. Zum einen durch unterschiedliche gärtnerische Eingriffe beim jährlichen Rückschnitt. Zum anderen durch eine möglichst weitgehende Einbindung der Tragstruktur in die Prozessualität ihres Kontexts. Je größer die Abhängigkeit der Struktur von der gelungenen Entwicklung ihrer Pflanzen ist, desto deutlicher wird sie in ihrer "Lebendigkeit" erfahrbar.

Kontextualität

Auch in ihrer räumlichen Entwicklung sind baubotanische Bauten von der kontingenten Entwicklung ihrer Umweltbedingungen abhängig. Die Architektur, die sich als Konsequenz aus der baubotanischen Konstruktionsweise ergibt, ist deswegen von der Entwicklung ihres Kontexts abhängig und primär temporär, also prozessual zu bestimmen. Dabei spielen der ökologische wie der soziale Kontext des Ortes gleichermassen bestimmende Rollen. Wie wird gepflegt, wie war das Wetter? Wie hat sich der Boden entwickelt, und wie viele Zweige wurden abgebrochen? Auf welche Gegebenheiten des Kontexts muss Acht gegeben werden; welche gilt es in Prognose und Pflege einzubinden? Die Architektur der Baubotanik ist nur im Zusammenspiel aller auf sie einwirkenden Umstände nachvollziehbar, inklusive der Eigenschaften der verwendeten Pflanzen.

Interdisziplinarität

Der Begriff Baubotanik wurde am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen IGMA der Universität Stuttgart entwickelt. Seit 2006 ist daraus ein interdisziplinäres Forschungs- und Betätigungsfeld für Architekten, Ingenieure, Geistes- und Naturwissenschaftler entstanden, die mit unterschiedlichen Sichtweisen auf die Baubotanik an ihrer Weiterentwicklung arbeiten.